Nathan:PRC-802

Tote Kinder - Zeichen des Lebens

Die kelsirische Gesellschaft basiert auf dem Prinzip des Matriarchats. Niemand weiß, was mit den männlichen Kelsiren geschieht, wenn sie alt werden. Aber dass die weiblichen deportiert werden, sobald sie ein gewisses Alter erreicht haben, ist jedermann bekannt. Es bleibt auch den Leuten von der SOL nicht verborgen. Sie wittern eine kelsirische Variante der Euthanasie und nehmen sich vor, der Sache auf den Grund zu gehen. Nicht nur, weil sie der Euthanasie - falls es sie wirklich gibt - Einhalt gebieten wollen, sondern auch, weil über den vierten Planeten der Sonne Yoxa-Sant, in der Sprache der Kelsiren Lugh-Pure genannt, verschiedenerlei geheimnisvolle Gerüchte in Umlauf sind, denen auf den Grund gegangen werden soll. Lugh-Pure hat von den Kelsiren einen merkwürdigen Beinamen bekommen. Sie nennen die Wüstenwelt auch „die toten Kinder der Kaiserin". Man will wissen was es damit auf sich hat. Die Entdeckungen, die Gucky und seine Mannschaft auf Lugh-Pure machen, sind in der Tat bemerkenswert. Schon auf dem Anflug zum vierten Planeten wird bemerkt, dass die weiblichen Kelsiren, die sich an Bord des Choolk-Schiffes unmittelbar vor der Space-Jet der SOL befinden, ihren suggestiven Gesang einstellen, als die Linie passiert wird, entlang deren die Schwerkraft von Drackrioch und Lugh-Pure einander aufheben. Man erinnert sich, dass die Gravitation bei der Entstehung der Kaiserin von Therm eine entscheidende Rolle gespielt hat und sieht hier Zusammenhänge, die vorläufig allerdings noch nicht quantifiziert werden können.

Auf Lugh-Pure erregen die riesigen Halden eines dunklen, brüchigen Materials die Aufmerksamkeit der SOL-Expedition. Es wird beobachtet, wie ein Choolk-Schiff Material derselben Art auf eine Halde abregnet. Die Halden sind also künstlich angelegt. Sie bestehen nicht aus einer Substanz, die auf Lugh-Pure natürlich vorkommt. Nach der Landung der Space-Jet wird das Gestein, aus dem die Halden bestehen, einer vorläufigen Untersuchung unterzogen. Es besitzt eindeutige und unverkennbare Ahnlichkeit mit der kristallinen Substanz, aus der die Kaiserin von Therm und ihre „Exekutiv-Organe", die COMPs, aufgebaut sind. Nur leuchtet es nicht und besitzt nur einen Teil der Kommunikationsfähigkeit, die die Kristalle der Kaiserin auszeichnet.

Inzwischen hat Icho Tolot eine Theorie entwickelt, die die Existenz der Halden erklärt - falls sie richtig ist - und überdies vorhersagt, dass das Innere der Halden gefährliches Gebiet ist. lcho Tolot geht von der Erkenntnis aus, dass bei der Erzeugung der Prior-Welle, die die Kunde von der Kultur der Soberer im Universum verbreiten sollte, zwei Dinge geschehen sind, die nicht ganz im Sinne des Erfinders waren.

Erstens waren die Soberer, organische Lebewesen, die sich bei der Bereitstellung der Information für die Prior-Welle zwar zum größten Teil, aber nicht vollständig auf das Wesentliche beschränken konnten. Während sie dachten und elektronische Sonden ihre Gedanken aufsammelten, mußte· ihnen auch Unwesentliches in den Sinn gekommen sein - der Ärger zum Beispiel, dass sie gezwungen waren, so konzentriert zu arbeiten, oder das Unbehagen, das ein Schmerz in der Seite verursachte. Die Sonden aber konnten zwischen wesentlichen und unwesentlichen Gedanken nicht unterscheiden. Sie erfaßten alles, die hehren Geistesflüge ebenso wie das Unbehagen über die schmerzende Seite und alles floß in die Prior-Welle ein.

Das zweite war der Digitisierungsprozeß, mit dem der Tiotronik-Verbund die aus den Gedanken der Soberer extrahierte Information behandelte. Wer einen frequenzabhängigen Prozeß digital bearbeitet. indem er den Zustand des Prozesses in regelmäßigen Zeitabständen mißt, der fügt dem Bearbeitungsergebnis eine Information bei, die der eigentliche Prozeß nicht enthält, nämlich die Frequenz, mit der der Prozeßzustand gemessen wurde.

Die Prior-Welle war demzufolge auch mit solchen Informationen besetzt, die sie nach Plan eigentlich nicht hätte enthalten dürfen. Bei der Rematerialisierung kamen auch diese Informationen wieder zutage und wurden Bestandteil der Kaiserin. Die Kaiserin jedoch wußte mit ihnen nichts anzufangen. Sie war programmiert, nur die planmäßigen Informationen als rechtmäßige Bestandteile ihrer selbst anzuerkennen. Die Strukturen. die aus den Pseudoinformationen - lcho Tolot nennt sie so - entstanden, betrachtete sie als nutzlose Wucherungen urid begann, sie abzustoßen. Die Abstoßung ist auch jetzt noch im Gange. Das dunkle, brüchige Gestein der Halden besteht aus den Gestalt gewordenen Pseudoinformationen.

Die Ironie des Schicksals ist es, dass der Teil der Pseudoinformationen, der von den „unwesentlichen" Gedanken der Soberer herrührt, eigentlich so recht erst Ausdruck des soberischen Lebens ist. Denn das Leben besteht ja keineswegs nur aus wesentlichen Dingen. Im Gegenteil: Das wirklich Wesentliche ist selten und ein Großteil des Lebens wird vom Unwesentlichen ausgemacht. Man fragt sich, ob in den „toten Kindern" nicht mehr Information über die wahren Soberer enthalten ist als in den leuchtenden kristallinen Strukturen der Kaiserin - ebenso, wie die Kritzeleien an den Wänden der römischen Katakomben manchmal mehr über das Leben im alten Rom aussagen als Ciceros gelehrte Reden.

Anders verhält es sich freilich mit den Informationen, die durch den Prozeß der Digitisierung der PriorWelle beigegeben worden sind. Sie sind künstlich und beziehen sich auf Dinge, die es in Wirklichkeit nicht gibt und nie gegeben hat. Auch sie fanden ihre Gestalt in dem dunklen Gestein, das zu Halden aufgetürmt auf Lugh-Pure liegt lcho Tolot meint, diesem Teil der Pseudoinformationen müsse man mit äußerster Vorsicht begegnen. Da sie künstlich sind, sind sie ebenso unberechenbar. Man weiß nicht, wie man sich ihnen gegenüber verhalten soll.

Icho Tolots Hypothese findet bald ihre Bestätigung. Die Gänge unter den Halden bilden eine düsstere Welt, in der zwei widerstrebende Kräfte miteinander zu ringen scheinen. Auch hier unten lebt die Erinnerung an die Soberer fort - zum Teil in einer sehr menschlichen, zum andern Teil in unmenschlicher Weise.

Die Gestalten, die aus dem angeblich toten Material hervorgewachsen sind und Erinnerungen an Dinge aus dem Alltagsleben der Soberer wachrufen, sind ein Beweis dafür, dass in den toten Kindern der Kaiserin mitunter mehr Leben steckt - Leben in seinem ursprünglichen, organischen, „unwesentlichen" Sinn - als in der Kaiserin selbst.

Quelle

Perry Rhodan Computer 802